Wie würden Sie reagieren, wenn Sie in Ihre Kirche kämen und Bänke oder Stühle nicht mehr an ihrem angestammten Platz, in ihrer gewohnten Ordnung vorfinden? Staunen? Neugier? Verunsicherung? Orientierungslosigkeit? Unverständnis?  Ein tatsächlich vollkommen neues, überraschendes Raumerlebnis erwartet die Kirchenbesucher*innen ab 5.September 2021 (bis 7. November, Finissage 17 Uhr) in der Kettwiger Kirche am Markt. 

© Lutz Johannsen Braun


Die Künstlerin Dorothee Bielefeld löst die starre Anordnung der Kirchenbänke auf, schafft eine neue Raummitte, einen neuen Ort der Kommunikation. Ihre ortsspezifische Installation, die mit subtilen Verunsicherungen durch die gravierende Veränderung der gewohnten Raumsituation arbeitet, gibt Anstoß zu vielfältiger Auseinandersetzung – über die Funktion von Kirchenausstattung und ihre Wirkung, über die Verortung des Einzelnen und das Entstehen von Gemeinschaft. Dabei ist ihre künstlerische Intervention eine Metapher für einen Aufbruch, einen Richtungswechsel: eine alte Ordnung wird aufgebrochen durch die Kraft der Veränderung und schafft so einen Möglichkeitsraum für Neues.

In Kooperation mit der Gemeinde Essen-Kettwig wird das innovative Projekt im Rahmen von GlaubeKunstLeben gefördert und begleitet.

Impressionen der umgesetzten Arbeit „aufbrechen“:

Zum Weiterlesen: ein Text von Dorothee Bielfeld mit Gedanken zur Konzeption ihrer Installation und Gedanken zur künstlerischen Arbeit von Pfarrerin Silke Althaus im Gemeindebrief.

aufbrechen
von Dorothee Bielfeld

Die Arbeit aufbrechen ist eine ortsspezifische Installation für die Kirche am Markt in Essen-Kettwig. Die vorhandene Raumsituation ist geprägt von den breiten Bänken im Zentrum der Marktkirche. Es gibt keinen Mittelgang und die seitlichen Gänge sind so schmal, dass man sich nur mit Mühe begegnen kann. An drei Seiten befindet sich eine hölzerne Empore mit Balustrade. Unter der Empore sind weitere Bänke angeordnet, die den gesamten Raum besetzen, so dass mit Ausnahme des Altarbereichs kaum Bewegungsraum vorhanden ist.

In ersten Gesprächen hat sich schnell das Thema des Gottesdienstraumes entwickelt. Berichtet wurde über eine sehr starre Raumsituation, die eine zeitgemäße und gewünschte lebendige Kommunikation erschwert. Der vorliegende Entwurf arbeitet mit den vorhandenen Elementen und bringt diese in eine neue Ordnung, bzw. Unordnung. Dieser Eingriff bildet einen starken Kontrast zur symmetrischen, orthogonalen Anordnung der im Raum vorhandenen Elemente, ohne neue Gegenstände hinzuzufügen. Durch das Verschieben und Verschränken der Kirchenbänke entsteht ein sehr dynamisches Gebilde, sinnbildlich für das Gemeindeleben und den Aufbruch zu etwas Neuem.

Die Installation aufbrechen besteht aus sieben vorhandenen Kirchenbänken (HBL 1,15 x 0,55 x 6,60m), die auf einer Gesamtfläche von 10 x 11 m im zentralen Luftraum der Kirche montiert werden. Dabei stehen die Bänke so im Winkel zueinander, dass ein neues Zentrum geschaffen wird. Vier Bänke sind am Boden verankert, drei Bänke sind an einer Seite im Boden verankert und liegen an einem Punkt auf einer der anderen Bänke auf, so dass die andere Seite in der Luft schwebt. Zwei Bänke schieben sich jeweils in die seitlichen Eingangsbereiche und führen den Betrachter in den Raum. Im tatsächlichen Zentrum der Marktkirche entsteht durch aufbrechen eine neue Raummitte und ein zentraler Ort der Kommunikation.

Die Bänke, die um diese Mitte neu angeordnet werden, können prinzipiell als Sitzgelegenheit genutzt werden. Das Sitzen ist allerdings etwas ungewöhnlich, da einige Bänke schräg stehen. Der Stammplatz kann nicht mehr einfach eingenommen werden, vielmehr gibt es neue Perspektiven auf den Raum und die Gemeinde. Ungewohnte neue Erfahrungen wie das Zusammenrutschen auf der schrägen Sitzfläche, das Bücken zum Erreichen des gewünschten Platzes, Umwege, neue Wege, das Sehen und Gesehen werden während des Gottesdienstes gehören zu diesem Raumexperiment.

Die Installation aufbrechen vernetzt sich mit dem umgebenden Raum. Die hölzerne Fläche im Fußboden, die eigentlich zur Aufstellung der Bankreihen vorgesehen ist, wird überschritten, die Bänke ragen in die Gänge und Eingangsbereiche und auch in die dritte Dimension, den Luftraum.

Diese Vernetzung ist für die Betrachtenden erlebbar. Es gibt keine klassischen Ansichten oder Rückseiten und keinen trennenden Sockel, vielmehr werden die Besucher*innen eingeladen die Arbeit zu durchschreiten, zu besitzen, zu benutzen und zu begreifen. In der individuellen Perspektive der Betrachtenden entsteht die Arbeit immer wieder neu. Das gewählte Materialverstärkt den engen Bezug zum Raum. Die Bänke sind keine Fremdkörper, sie sind selbstverständlicher Bestandteil des Kirchenraums. Fast wirkt es, als ob alle Bänke zur Installation gehören. Einige stehen NOCH an ihrem festen Platz, andere sind schon ordentlich in Bewegung…(ähnlich wie die Mitglieder der Gemeinde).

Der Titel der Arbeit aufbrechen bezieht sich darauf, dass hier ein Neubeginn gedacht wird. Das räumliche Potential wird ausgelotet, die alte Ordnung wird gestört, man kann sich auf das Experiment mit dem Raum einlassen, eine neue Entwicklung ahnen. Das Projekt ist dabei Pionier im Sinne eines Startzeichens und einer aktiven Kraft zur Veränderung.

Außerdem impliziert der Titel auch das Aufbrechen, das Lösen von starren Strukturen. Die Arbeit war ursprünglich im Rahmen des 300jährigen Jubiläums des Wiederaufbaus der Kirche am Markt im Herbst 2020 geplant, wurde um ein Jahr verschoben und soll nun im September 2021 realisiert werden.

Anschließend wird der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt. Der Raum wird sich allerdings mit seinem neu entdeckten Potential in der Wahrnehmung für immer verändern. Die Arbeit aufbrechen kann Initialzündung sein für eine neue Ausrichtung (oder Einrichtung) des Raumes.

Kategorien: Projekte